Zug nach Bremen. Mastodon auf den Ohren. Eine Gruppe Jugendlicher mit sinnlosen Gesprächen, Imponiergehabe und Energydrinks. Leere schleicht sich zurück in mein Leben. Blick aus dem Fenster, die Sonne scheint auf die vorbeirauschende, grüne Landschaft. Wie wenn man ins Feuer starrt bleiben die Augen dort haften, starren ins Nichts, ohne etwas Spezielles zu sehen, zu erkennen. Ebenso rasen die Gedanken, ohne dass sich einer manifestiert, lang genug, um wahr genommen zu werden.

Weiß nicht, was ich über die letzten intensiven Tage denken soll. Wieso ich immer Alkohol trinken will, muss, um unter Menschen sein zu können. Mich wohl zu fühlen. Es ist ein Mittwoch. Ich mag Mittwoche fast so wenig wie Sonntage. Es ist alles so schrecklich unwichtig. Fühlt sich so unreal an nach Tagen mit viel zu wenig Schlaf. Nach Tagen mit IHM.

Nie hat mein Herz so geklopft wie am Freitag um viertel vor sechs. Ich war überzeugt, an einer Herzattacke sterben zu müssen bevor ich an der verabredeten Haltestelle aussteigen können würde.
Meine Augen sahen sich panisch um beim Hinauslaufen, suchten ihn bei jedem Schritt. Kein klarer Gedanke möglich, jede Handlung mechanisch.
Und dann stand er da. Als wäre es das Normalste der Welt. Als hätten wir uns nicht 38 Monate lang nicht gesehen. Begann zu lächeln. Das Herzrasen verwandelte sich in meine normale unglaublich hektische Art, die ich immer an den Tag lege, wenn ich nervös bin.
Umarmung war nicht so kurz wie normale Umarmungen, war kräftig, notwendig, gab Halt und zeigte, wie sehr wir uns vermisst hatten.
Oberflächliche Gespräche zum Einstieg bis die Gewöhnung und der Alkohol uns langsam sicherer machten, mir mein Vertrauen zurückgab.
Zufällige Berührungen die ganze Zeit.
Hätte ihn so gern mehr berührt. Meine rechte Hand auf seine Wange gelegt, während wir uns schweigend in die Augen geschaut hätten.
Er war doch noch der Gleiche, war doch noch von mir, ich hatte doch das Recht, ihn zu berühren, zu küssen, seinen Duft einzuatmen… oder nicht?
Bis er mir erzählte von seiner Neuen, wieder Stich ins Herz, Eifersucht und er hatte mich also angelogen. Wie immer wird mir übel, wie immer verzeihe ich ihm alles. Jetzt schnell als früher, uns bleibt nur so wenig Zeit. Meine Würde war schon längst aufgestanden und gegangen, während ich noch am Tisch des kleinen italienischen Restaurants sitzenblieb.
Er beobachtete mich genau. Ich sah in seinen intelligenten, wachen, graublauen Augen was er über jede meiner Reaktionen dachte, wie er sie analysierte, mich versuchte, einzuschätzen.
In unserer alten Cocktailbar, nachdem er das Vorwort gelesen hatte und wir den dritten Drink in der Hand hatten, war das Eis gebrochen.
Seine Gefühle für mich, all die Erinnerungen, sein inneres Durcheinander, seine Überraschung und Resignation waren in seinen Augen abzulesen.

Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn zu küssen.

Ich tat nichts dergleichen, dachte daran, wie sehr wir das bereuen würden unter den jetzigen Umständen. Wie sehr ich mir geschworen hatte, meinem Freund so etwas niemals anzutun.
Er wollte nicht, dass ich seine Wohnung sah. Erniedrigung beim Betteln. Immerhin hat er dieses Mal mit der Adresse rausgerückt – nicht, dass ich sie in dem Zustand hätte behalten können. Viele, wenn nicht alle anderen Fragen die mir seit Jahren auf der Seele brennen, einfach übergangen, ignoriert, unbeantwortet. Ich gebe es auf, er war immer so. Und wirbelt mir trotzdem alles durcheinander und zeigt mir, was ich vermisse, verpasse.
Leidenschaft, Lebendigkeit. Ungewissheit. Das wundervollste Lächeln der Welt.

Um 5 Uhr morgens – Abschied,  wie immer die Hölle. Es hat was von Sterben, denke ich. Heule sein weißes Hemd 20, 30 Minuten lang mit wasserfestem Mascara voll während ich ihn so fest halte wie noch nie, mich verzweifelt an ihn klammere als könnte ich dadurch verhindern, dass wir uns immer wieder verlieren. Er hält mich in seinen Armen fest, unsere Hände berühren alles, was noch im nicht grenzwertigen Bereich ist, er küsst mir auf die Stirn, atmet an die Haut auf meinem Hals.
Während er aussteigt, reiße ich mich kurz zusammen. Sobald er aus der Sichtweite ist, heule ich, als wären meine Eltern gerade tödlich verunglückt. Als hätte ich die Liebe meines Lebens unwideruflich wieder verloren. Was ja passiert ist.

Niemals vor anderen so sehr geheult, geschluchzt, mich so verletzlich gezeigt wie auf dieser Ubahn Rückfahrt nachts um halb 6. Niemand nimmt auch nur Notiz von mir.

Sind solche intensiven Beziehungen einfach nicht für Happy Ends gemacht? Wie kann es sein, dass zwei Menschen, die sich so sehr geliebt haben, lieben, sich so sehr anziehen, nicht zueinander finden? Es schmerzt fast noch mehr als der erste Abschied vor drei Jahren, als ich zum ersten Mal wusste, dass ich ihn verloren hatte, so nicht mehr weitermachen konnte.
Nur dass ich damals in ein neues, aufregendes Leben abtauchen konnte. Gefühle verdrängen, ausschalten konnte. Und dieses Mal?  Fühlt sich alles an wie eine große, lächerliche Lüge. Vor allem mir selbst gegenüber.

Weiß nicht mehr was real ist und was nicht. Bräuchte Tage, Wochen, in denen ich einfach nur aus dem Fenster starren möchte, „Another Love“ oder „All that could have been“ oder „Not sorry“ in der Endlosschleife hören und warten, auf eine Klarheit, eine Gewissheit, die wohl nie kommen wird. Ich bete, hoffe, dass ich wieder mehr weiß wenn mein Freund in zwei Tagen vorbeikommt.
Er weiß nicht, was alles hätte passieren können, was in Gedanken schon längst passiert ist.
„Es ist, als würden wir beide zwei Beziehungen führen“ lese ich mir wieder und wieder durch. Es hat nie mit uns geklappt, es lag nie daran, dass wir uns nicht über alles geliebt hätten. Gott, das wird mich noch umbringen. Muss muss muss es jetzt verdrängen, mit jeder Bahnstation weiter hinter mir lassen, wenn ich jemals wieder schlafen will. Es wird leiser, ich flüchte mich in Aufgaben, von denen es immer genug gibt bei mir.